Erwiderung auf Kritik an Stellungnahme „COVID-19: Wo ist die Evidenz?“

Die Stellungnahme des EbM-Netzwerks „COVID-19: Wo ist die Evidenz?“ wurde in der Öffentlichkeit kritisiert. Wir haben die wesentlichen Aussagen herausgegriffen, zu denen uns konkrete wissenschaftliche oder handwerkliche Fehler vorgehalten werden. Zu diesen Punkten möchten wir hier Stellung beziehen.

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Die Liste wird nach und nach vervollständigt.

Sind die geforderten Studien unrealistisch?

 

Es wurde kritisiert, dass das EbM-Netzwerk RCTs (randomisierte kontrollierte Studien) fordert, um die Wirksamkeit von präventiven Maßnahmen zu untersuchen. Einerseits seien RCTs zu solchen Maßnahmen kaum praktisch durchführbar, andererseits seien die bereits vorhandenen Daten hinreichend aussagekräftig. Auch lasse sich die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen insbesondere daraus ableiten, dass die Pandemie in Deutschland günstiger als in anderen Staaten verlaufen sei.

 

Es ist unzweifelhaft, dass die Neuartigkeit von COVID-19 es initial erforderlich gemacht hat, weitreichende Entscheidungen zu Prävention, Diagnose und Therapie zu treffen, ohne das übliche Maß an wissenschaftlichen Daten verfügbar zu haben. Dieser Zustand der akuten Gefahrenabwehr kann jedoch nicht mittel- oder langfristig weitergeführt werden, sondern das Agieren muss auch von Evaluieren begleitet werden. Dies gilt auch für die nicht-pharmakologischen Interventionen (NPI), die vor einer Infektion schützen sollen.1


Wie in der Stellungnahme erläutert, wurde die Wirksamkeit von Mund-Nase-Schutzmasken in zahlreichen RCTs untersucht – allerdings bei anderen viralen Atemwegserkrankungen, nicht bei der SARS-CoV2-Infektion. Daher werden international RCTs hierzu explizit gefordert2 und inzwischen auch durchgeführt3. Mancherorts können RCTs (zumindest solche zur COVID-19-Therapie im Krankenhaus) binnen 2 Wochen geplant und gestartet werden4. Retrospektive Beobachtungsstudien sind zwar bislang oft schneller und einfacher umzusetzen, dafür aber mit erheblichen Unsicherheiten behaftet5. Weil Präventivmaßnahmen vor allem in schwerer betroffenen Regionen angewendet werden, können die schlechteren lokalen Bedingungen, die zur regionalen Ausbreitung von Corona beitrugen, auch die Wirkung der Präventivmaßnahmen hemmen, sodass deren Wirkung im Vergleich zu anderen Regionen unterschätzt wird. In diesem Sinne kann beispielsweise die Akzeptanz von Mund-Nase-Masken aufgrund sozialer oder kultureller Faktoren zwischen verschiedenen Regionen differieren. Dies zeigt insgesamt, dass hochwertige Evidenz zum Tragen von Mund-Nase-Masken sinnvoll, machbar und notwendig ist. Gleichwohl sind Beobachtungsstudien zur ersten Effektabschätzung hilfreich und in jedem Fall besser, als ganz ohne Evidenz entscheiden zu müssen.


Maßnahmen auf Bevölkerungsebene können durch Randomisieren von sogenannten „Clustern“ untersucht werden. Dies bedeutet, dass in einigen Regionen bestimmte Maßnahmen durchgesetzt werden, während dies in anderen Regionen nicht erfolgt. Die vergleichende Beobachtung verschiedener Länder oder Regionen (ohne Randomisierung) deutet zwar darauf hin, dass Maßnahmen zur räumlichen Distanzierung die Ausbreitung der Infektion etwas reduziert haben 6. Es ist jedoch schwer, anhand einfacher Beobachtungsdaten einzelne Maßnahmen zu beurteilen, wie z. B. das Einstellen des öffentlichen Personenverkehrs oder das Schließen aller Schulen7. Da die Effekte der Maßnahmen unsicher und vermutlich zum Teil gering sind, wäre es ethisch vertretbar und wissenschaftlich wünschenswert, präventive Maßnahmen in cluster-randomisierten Studien zu untersuchen.8, 9 Beispielsweise könnte man per Zufall auf Landkreis- oder Bundesland-Ebene entscheiden, ob und vor allem in welcher Form Schulunterricht stattfindet.10 Auch für die Gastronomie oder den Kulturbetrieb wären randomisierte Studien in dieser Form denkbar. Zum Wiederöffnen von Fitness-Studios und Sportanlagen gibt es bereits eine norwegische Studie, in der fast 4000 Einzelpersonen randomisiert wurden.11


Nur durch solch bewusstes „Experimentieren“ lernt die Menschheit besser mit der jetzigen und mit zukünftigen Pandemien umzugehen.12 Solche Studien setzen aber voraus, dass man sich selbst und der Bevölkerung ehrlich und mutig eingesteht, die Wirksamkeit einer Maßnahme nicht näher abschätzen zu können. Das EbM-Netzwerk hat mit seiner Stellungnahme dazu aufgerufen, stärker in dieser Richtung zu denken und zu handeln – nämlich dass dringend bessere Evidenz geschaffen wird. Dies halten wir weiterhin für richtig und wichtig.

 

Referenzen

  1. McCartney M. We need better evidence on non-drug interventions for COVID-19. BMJ 2020; 370: m3473. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32895223/
  2. Chu DK, Akl EA, Duda S, et al. Physical distancing, face masks, and eye protection to prevent person-to-person transmission of SARS-CoV-2 and COVID-19: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2020; 395: 1973–87. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32497510/
  3. Bundgaard H, Bundgaard JS, Raaschou-Pedersen DET et al. Face masks for the prevention of COVID-19: Rationale and design of the randomised controlled trial DANMASK-19. Dan Med J 2020; 67: A05200363. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32829745/
  4. Nuffield Department of Public Health, Univerity of Oxford: How to set up a trial in nine days. https://www.ndph.ox.ac.uk/longer-reads/how-to-set-up-a-trial-in-nine-days
  5. Lyu W, Wehby GL. Community use of face masks and COVID-19: Evidence from a natural experiment of state mandates in the US. Health Aff (Millwood) 2020; 39: 1419-1425. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32543923/
  6. Islam N, Sharp SJ, Chowell G, et al. Physical distancing interventions and incidence of coronavirus disease 2019: natural experiment in 149 countries. BMJ 2020; 370: m2743. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32669358/
  7. Auger KA, Shah SS, Richardson T, et al. Association between statewide school closure and COVID-19 incidence and mortality in the US. JAMA 2020; 324: 859-870. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32745200/
  8. Roberts H, Petticrew M, Macintyre S, et al. (2008) Randomised controlled trials of social interventions: report of a pilot study of barriers and facilitators in an international context. Occasional paper, 19. MRC Social & Public Health Sciences Unit (SPHSU), London, UK. http://eprints.lse.ac.uk/42946/
  9. Bramstedt KA. The carnage of substandard research during the COVID-19 pandemic: a call for quality. J Med Ethics 2020; prepublished online. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33004545/
  10. Fretheim A, Flatø M, Steens A, et al. COVID-19: we need randomised trials of school closures. J Epidemiol Community Health 2020; prepublished online. https://jech.bmj.com/content/early/2020/09/18/jech-2020-214262
  11. TRAiN study group, Bretthauer M: Randomized re-opening of training facilities during the COVID-19 pandemic. 25. Juni 2020. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.06.24.20138768v2
  12. BESSI Collaboration. Behavioural, Environmental, Social and Systems Interventions (for pandemic preparedness). https://www.bessi-collab.net/

 

Prof. Dr. med. Stefan Sauerland
Beisitzer im geschäftsführenden Vorstand des EbM-Netzwerks
Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen
Vorsitzender des EbM-Netzwerks

 

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Spätfolgen einer COVID-19 Erkrankung

 

Es wird bemängelt, das EbM-Netzwerk sei nicht ausreichend auf die möglichen Spätfolgen einer COVID-19 Erkrankung eingegangen.

 

Manche Personen, die positiv auf SARS-CoV 2 getestet oder mit einer COVID-19 Diagnose im Krankenhaus behandelt wurden, berichten über längerfristige Beeinträchtigungen der Gesundheit, selbst wenn sie als geheilt gelten. Komplikationen betreffen die Funktion der Lungen, das Herz-Kreislaufsystem, das Nervensystem, oder es wird über eine allgemeine Müdigkeit und Kraftlosigkeit geklagt. Bisher fehlen zum Langzeitverlauf aussagekräftige Studien. Die Beobachtungszeiten sind naturgemäß noch kurz. Die bereits vorliegenden Publikationen haben überwiegend kleine und selektionierte Stichproben. Insbesondere fehlen meist Kontrollgruppen, um für einzelne Komplikationen und Beschwerden kausale Bezüge zu SARS-CoV-2/COVID-19 aufzeigen zu können.1

 

Die meisten der berichteten Beschwerden wie Müdigkeit oder Kurzatmigkeit sind unspezifisch und werden auch nach anderen Infektionskrankheiten beobachtet. Rekonvaleszenz nach Pneumonien oder anderen schweren Erkrankungen, die zur Behandlung auf einer Intensivstation führen, können mehrere Monate andauern.2, 3 Auch Riech- und Geschmacksveränderungen treten bei anderen Erkrankungen auf. Nicht selten bleiben solche Störungen unerkannt oder sie werden erst wahrgenommen, wenn danach gesucht und getestet wird.4

 

Üblicherweise werden solche länger anhaltenden Einschränkungen der Lebensqualität nach schweren Erkrankungen nicht mit einer so hohen Medienwirksamkeit berichtet wie aktuell für SARS-CoV-2/COVID-19. Es ist daher zu vermuten, dass es einen relevanten Wahrnehmungs- und Diagnosebias bei COVID-19 gibt.


Einzelfallbeobachtungen oder Berichte ohne Vergleichsgruppen können helfen Hypothesen zu generieren. Um das tatsächliche Ausmaß an Langzeitbeschwerden und -komplikationen zu erfassen, und um zu beurteilen, inwieweit sie spezifisch für SARS-CoV-2/COVID-19 sind, braucht es gut geplante Kohorten- und vergleichende Studien.

 

Referenzen

  1. Del Rio C, Collins LF, Malani P. Long-term health consequences of COVID-19. JAMA published online October 5, 2020. https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2771581
  2. Sellers SA, Hagan RS, Hayden FG, Fischer WA 2nd. The hidden burden of influenza: A review of the extra-pulmonary complications of influenza infection. Influenza Other Respir Viruses. 2017; 11 (5): 372-393. doi:10.1111/irv.12470
  3. Mangen, M.J., Huijts, S.M., Bonten, M.J.M. et al. The impact of community-acquired pneumonia on the health-related quality-of-life in elderly. BMC Infect Dis 17, 208 (2017). https://doi.org/10.1186/s12879-017-2302-3
  4. Liu G, Zong G, Doty RL, et al. Prevalence and risk factors of taste and smell impairment in a nationwide representative sample of the US population: a cross-sectional study. BMJ Open 2016; 6: e013246.doi:10.1136/bmjopen-2016-013246

 

Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser
Mitglied des erweiterten Vorstands
des EbM-Netzwerks
Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen
Vorsitzender des EbM-Netzwerks

 

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Infektionssterblichkeit

 

Es wird kritisiert, dass das EbM-Netzwerk mit der Infektionssterblichkeit (IFR) argumentiere, wie sie sich in den letzten vier Wochen vor Verfassung der Stellungnahme darstellte.

 

In unserer Stellungnahme ging es um die Darstellung der Größenordnung. Hierzu beschreiben wir das Verhältnis von Todesfällen zu Infizierten und stellen fest, dass diese Zahl im August im Gegensatz zum April sehr niedrig ist. Wir weisen auch in unserer Stellungnahme bereits darauf hin, dass diese Daten nicht für eine exakte Bestimmung der Infektionssterblichkeit (IFR) geeignet sind.

Bei Beginn der Pandemie wurden überwiegend symptomatische und erkrankte Personen auf SARS-CoV-2 getestet. Ein hoher Anteil der Infizierten und Verstorbenen waren Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen. Das Verhältnis von Todesfällen mit positivem Testergebnis auf SARS-CoV-2 zur Gesamtzahl der positiv getesteten Personen erreichte in Deutschland Mitte April einen Höchstwert von fast 7%1.

Während der Sommermonate wurden in Reihenuntersuchungen, z.B. bei Reiserückkehr, zunehmend asymptomatische Personen getestet, und es gab insgesamt mehr Testungen. Bei Personen mit einem positiven Testergebnis auf SARS-CoV-2 stieg der Anteil asymptomatischer oder wenig symptomatischer Personen von 3% Ende März auf fast 35% Mitte August. Zudem infizierten sich im Vergleich zu Beginn der Pandemie relativ mehr junge als alte Menschen. Junge Menschen mit einem positiven Test auf SARS-CoV-2 haben ein deutlich niedrigeres Sterberisiko als ältere Menschen.2 Das bedeutet, dass die Infektionssterblichkeit rechnerisch abnimmt. Ende August erreichte die Sterberate gemäß den Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) einen Tiefstwert von 0,16% 3.

 

Es wird außerdem kritisiert, dass das EbM-Netzwerk selektiv Daten zur Infektionssterblichkeit (IFR) nutze und einzelne wichtige Studien außer Acht lasse.

 

In unserer Stellungnahme zitieren wir keine Einzelstudien, sondern eine systematische Übersichtsarbeit mit Metaanalyse von 24 Studien, die zu einer IFR 0,68% (95%-Konfidenzintervall 0,53% bis 0,82%) bei sehr hoher Heterogenität kommt. Wir betonen, dass die Metaanalyse nur als preprint (noch nicht begutachtet) vorliegt, die Ergebnisse daher vorläufig sind.4

Inzwischen ist eine neue Metaanalyse, ebenfalls als preprint, veröffentlicht worden, die einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der großen Spannbreite von IFR aus verschiedenen Ländern und Regionen leisten könnte.5 Die Metaanalyse beschränkt sich auf ausgewählte Studien aus OECD Ländern. Die Ergebnisse weisen auf eine starke Abhängigkeit der IFR vom Alter der untersuchten Gruppen. So fände sich bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine IFR nahe Null, bei 55-Jährigen eine IFR von 0,4%, bei 65-Jährigen von 1,3%, bei 75-Jährigen von 4,2% und bei einem Alter von 85 Jahren eine IFR von 14%. Die Autoren betonen, dass die Altersstruktur der untersuchten Populationen fast 90% der geografischen Varianz der IFR erklären könne.

 
Vergleiche mit anderen Krankheiten sind notwendig

Die Bewertung altersabhängiger IFR für SARS-CoV-2 erfordert die Analyse und Einordnung der Mortalitätsdaten im Kontext anderer Erkrankungen und Todesursachen. Ein direkter Vergleich mit Influenza ist schwer möglich, da es keine einheitliche Systematik zur diagnostischen Erfassung, Berichterstattung und Auswertung für die beiden Infektionskrankheiten gibt. Dies gilt insbesondere auch für die Bestimmung der Todesursachen.

In unserer Stellungnahme haben wir auf die Krankheitslast durch ambulant erworbene Pneumonien (z.B. Influenza, Pneumokokken, andere respiratorische Viren) verwiesen. Ein Vergleich mit COVID-19 Pneumonien wäre möglich, wenn sowohl für ambulant erworbene Pneumonien als auch für COVID-19 Pneumonien, aufgeschlüsselt für die unterschiedlichen Altersgruppen, Daten zur Rate an Testpositiven, Erkrankungshäufigkeit, Hospitalisierungsrate, Anzahl der Behandlungen auf Intensivstation sowie Sterberaten verfügbar wären. Auch die Gesamtsterblichkeit der Altersgruppen sollte mit genannt werden.

In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 660.000 Menschen an einer ambulant erworbenen Pneumonie (ca. 800/100.000 Einwohner), ca. 300.000 von diesen werden stationär behandelt, 40.000 versterben an der Erkrankung (39/100.000 Einwohner). Die Letalität der ambulant erworbenen Pneumonien wird auf etwa 6% geschätzt; für hospitalisierte Patienten beträgt sie 14% mit einer starken Altersabhängigkeit (etwa 5% für <65-Jährige, 17% der ≥65-Jährigen). Ähnliche Daten werden für die Schweiz berichtet.7

Auf die Notwendigkeit Mortalitätsdaten in den Kontext zu stellen, hat das EbM Netzwerk schon in früheren Veröffentlichungen hingewiesen.8, 9

 

Referenzen

  1. RKI. Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 06.10.2020. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-06-de.pdf?__blob=publicationFile
  2. Levin AT, Hanage WP, Owusu-Boaitey N, Cochran KB, Walsh SP, Meyerowitz-Katz G. Assessing the age specificity of infection fatality rates for COVID-19: Systematic review, mete-analysis, and public policy implications. medRxiv 2020.07.23.20160895; doi: https://doi.org/10.1101/2020.07.23.20160895
  3. RKI. Täglicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 06.10.2020. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-06-de.pdf?__blob=publicationFile
  4. Meyerowitz-Katz G, Merone L. A systematic review and meta-analysis of published research data on COVID-19 infection-fatality rates [Internet]. Epidemiology; 2020 [zitiert 2020 Aug 21]. Verfügbar unter: http://medrxiv.org/lookup/doi/10.1101/2020.05.03.20089854
  5. Levin AT, Hanage WP, Owusu-Boaitey N, Cochran KB, Walsh SP, Meyerowitz-Katz G. Assessing the age specificity of infection fatality rates for COVID-19: Systematic review, mete-analysis, and public policy implications. medRxiv 2020.07.23.20160895; doi: https://doi.org/10.1101/2020.07.23.20160895
  6. Ewig S, Bauer T, Richter K, Szenscenyi J, Heller G, Strauss R, Welte T. Prediction of in-hospital death from community-acquired pneumonia by varying CRB-age groups. Eur Respir J 2013; 41: 917-922
  7. Ott SR. Ambulant erworbene und nosokomiale Pneumonie. Swiss Medical Forum 2018; 18: 569-574. https://medicalforum.ch/article/doi/smf.2017.03296
  8. Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Stellungnahme: Risikokommunikation zu COVID-19 in den Medien. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-risikokommunikation-covid19-20200820.pdf
  9. Mühlhauser I. Werden ältere Menschen benachteiligt, wenn Screening-Programme altersbegrenzt sind? Wie der Nutzen von Krebsfrüherkennung von Alter und Gesundheitszustand abhängt. KVH Journal 3/2020: 26-29. https://www.ebm-netzwerk.de/de/medien/pdf/ebm-3_20_kvh_journal_screening_aeltere.pdf

 

Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser
Mitglied des erweiterten Vorstands
des EbM-Netzwerks
Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen
Vorsitzender des EbM-Netzwerks

 

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Techniken der EbM in Stellungnahmen

 

Es wird kritisiert, dass das EbM-Netzwerk in seiner Stellungnahme die Techniken der EbM selbst nicht anwendet; ferner die Stellungnahme nicht die Position aller Netzwerkmitglieder widerspiegelt.

 

Das EbM-Netzwerk verfasst Pressemeldungen und Stellungnahmen zu aktuellen Themen. Stellungnahmen sind keine systematischen Reviews zu einem bestimmten Thema. Die Literatur wird daher selektiv zitiert. In Stellungnahmen wollen die Autor*innen Positionierungen aus der Sicht der EbM zum Ausdruck bringen.
Veröffentlichungen des EbM-Netzwerks werden federführend von einzelnen Mitgliedern des (geschäftsführenden oder erweiterten) Vorstands verfasst. Stellungnahmen werden üblicherweise von ein bis zwei Autor*innen des Vorstands gezeichnet. Die vorläufige Endfassung einer Stellungnahme wird in der Regel den Mitgliedern des erweiterten Vorstands 24 bis 48 Stunden vor Veröffentlichung geschickt. Laut Satzung des EbM-Netzwerks ist es die Aufgabe des geschäftsführenden Vorstands, Stellungnahmen oder Memoranden zu beschließen.


Es wird kritisiert, dass die Autoren der Stellungnahme nicht namentlich genannt wurden.

 

Die Stellungnahme war vom Vorsitzenden des EbM-Netzwerks, Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen, für den geschäftsführenden Vorstand gezeichnet. Die Mitglieder des Vorstands sind auf der Website des EbM-Netzwerks namentlich genannt (https://www.ebm-netzwerk.de/de/ueber-uns/vorstand).  

 

 

Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer
Schriftführendes Mitglied des
geschäftsführenden Vorstands
Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen
Vorsitzender des EbM-Netzwerks

 

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Quarantäne zur Eindämmung einer COVID-19-Ausbreitung

 

 

Einige Rückmeldungen zur Stellungnahme des EbM-Netzwerks kritisierten, dass die Evidenz zur Quarantäne fälschlich unterbewertet worden sei.

 

Nussbaumer-Streit et al. (2020)1 haben ein Cochrane Rapid Review zu dieser Fragestellung publiziert. Die Zielpopulation waren Personen mit Kontakt zu bestätigten oder mutmaßlichen Covid-19 Fällen, Personen, die aus Ländern mit einem Infektionsausbruch anreisen oder Personen, die in Regionen mit hoher Infektionsrate leben. Eingeschlossen wurden 51 Studien, darunter acht Beobachtungsstudien und 43 Modellierungsstudien. In 32 Studien ging es um Covid-19, in den restlichen um MERS und SARS. In allen Studien wurde Quarantäne allein oder in Kombination mit anderen Public Health Maßnahmen hinsichtlich des Ausmaßes an Wirksamkeit auf die Ausbreitung von Covid-19 untersucht.

Die Vertrauenswürdigkeit der Studien ist eingeschränkt, u.a. da es den Kohortenstudien an einer Kontrollgruppe fehlt, Studien zu MERS und SARS nur indirekte Evidenz darstellen und Modellierungsstudien mit diversen Annahmen zu Modellparametern arbeiten, die unzutreffend sein können, u.a. in Anbetracht fehlender valider Schätzungen der wahren Prävalenz von Covid-19. Die Einschätzung der internen Validität der Modellierungsstudien legt für den überwiegenden Anteil ein mittleres (n=18) bis sehr hohes Risiko (n=12) für methodische Verzerrungen nahe. Den Beobachtungsstudien wird ein mittleres (n=6) bis sehr hohes Risiko für Bias (n=2) bestätigt.

Dementsprechend vorsichtig müssen die Ergebnisse der Evidenzsynthese interpretiert werden. Hier liegt eben keine Evidenz aus prospektiven kontrollierten Studien vor, in der unterschiedliche Strategien miteinander verglichen werden.

Die Modellierungsstudien legen nahe, dass Quarantäne die gewünschten Effekte – Reduktion der Neuinfektionen und Todesfälle sowie der Reproduktionsrate – haben kann. In Kombination mit anderen Public Health Maßnahmen (Schulschließungen, sozialer Distanz, Reisebeschränkungen) könnten die Effekte womöglich größer sein.

Das wahre Ausmaß der Effekte ist unsicher. Unerwünschte Wirkungen der Quarantäne auf die Gesundheit, die soziale und ökonomische Situation werden im Review nicht berücksichtigt.

Insgesamt gesehen ist die wissenschaftliche Beweislage zur Quarantäne unbefriedigend und sollte Anlass geben, umgehend solide prospektive Studien zu initiieren. In ihren methodischen Forderungen gehen die Autor*innen des Cochrane Reviews nicht so weit, randomisierte kontrollierte Studien zu fordern, jedoch gut geplante quasi-experimentelle Studien, die belastbarere Aussagen zum kausalen Zusammenhang der Interventionen erlauben.

Der Rapid Review ist öffentlich zugänglich, neben anderen Cochrane Reviews zur nicht-pharmakologischen Infektionskontrolle von Covid-19 und anderen respiratorischen Infektionen: https://www.cochranelibrary.com/covid-19#Cochrane%20Reviews.

Kurze Evidenzsynthesen werden auch auf der Webpage des Kompetenznetzes Public Health Covid-19 bereitgestellt: https://www.public-health-covid19.de/en/results.html.

 

Referenz

  1. Nussbaumer-Streit B et al. Quarantine alone or in combination with other public health measures to control Covid-19: a rapid review. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020, Issue 9, Art. No.: CD013574
Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer
Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des EbM-Netzwerks

Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen
Vorsitzender des EbM-Netzwerks

 

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Falsch-positive Testergebnisse

 

Falsch-positive Testergebnisse seien bei der RT-PCR so gut wie ausgeschlossen. Daher sind kritische Überlegungen zur Aussagekraft von positiven Testergebnissen im Massenscreening rein theoretischer Natur und nicht angemessen.

 

Die Überlegungen in der Stellungnahme zur Aussagekraft von positiven Testergebnissen im Szenario des anlasslosen Testens im Niedrigprävalenzbereich waren in der Tat theoretischer Natur – da es uns nicht gelungen ist, valide Daten zur Testgenauigkeit der PCR im alltäglichen Setting aufzufinden.

 

Ein systematischer Review1 zur Genauigkeit von diagnostischen Tests zur Erkennung einer SARS-COV-2 Infektion vom 10.07.2020 findet neun Studien, die Testcharakteristika von RT-PCR Verfahren berichten. Zwei Studien gingen nicht in weiterführende Analysen ein, da sie keine Daten aus einer klinischen Anwendung berichteten. Die Ergebnisse der übrigen sieben Studien wurden in Meta-Analysen zur Sensitivität der Tests in unterschiedlichen Probenmaterialien zusammengeführt. Hinsichtlich der Spezifität stellen die Autoren fest, dass aufgrund der Tatsache, dass in den Studien keine Kontrollgruppen mitgeführt wurden, Analysen zur Spezifität nicht möglich waren. Sie verweisen auf die Ergebnisse zwei kleinerer chinesischer Studien mit Kontrollgruppe, die zu teils widersprüchliche Spezifitätsergebnisse zwischen 90% und 100% aus unterschiedlichen Probenmaterialien berichten.

 

Ein weiterer systematischer, am 01.10.2020 im British Medical Journal publizierter Rapid Review2 zur Wirksamkeit von Tests (Virustests, Antikörpertests) im Rahmen der COVID-19 Diagnostik schließt 16 Studien zur RT-PCR ein und kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Spezifität nicht valide abschätzbar ist, da alle Studien ausschließlich Ergebnisse von anschließend bestätigten COVID-19 Fällen berichten. Studien zum Massenscreening waren explizit ausgeschlossen.

 

Die einzige - uns bekannte - Auswertung einer größeren Stichprobe von überwiegend anlasslosen Tests wurde von einer Autorengruppe aus der Herstellerfirma einer SARS-CoV-2 Testplattform publiziert3. Über die Testplattform wird die gesamte Testprozedur von der Registrierung des Nutzers, der Probenentnahme, -verarbeitung und RT-PCR Analyse bis hin zur Ergebnismitteilung koordiniert. Die Autoren fanden in einer Stichprobe von 9618 Personen aus Mecklenburg-Vorpommern, die sich insgesamt 17545 Tests über die Plattform unterzogen hatten, insgesamt 5 positiv getestete Personen, von denen drei keinerlei Symptome oder Kontakte berichteten. Die positiven Ergebnisse wurden laut Autoren von einem externen Labor bestätigt (ohne weitere Angaben), sie schließen daher auf eine Spezifität von 100% für ihr Test-System.


Wenn man alle diese Daten zusammen betrachtet, gibt es nur wenige aussagekräftige Untersuchungen zur Spezifität der RT-PCR.

 

Aber auch unter der Annahme, dass die Spezifität sehr hoch liegt, z.B. weit über 99%, halten wir Überlegungen zu den Konsequenzen anlasslosen Testens für weiterhin erforderlich – und sind der Meinung, dass man sich diesen beispielhaft – auch mit Annahmen wie in unserer Stellungnahme geschehen – nähern darf. Auch das RKI weist auf die Problematik hin, dass „bei niedriger Prävalenz und niederschwelliger Testindikation […] an die Spezifität der Teste […] hohe Anforderungen gestellt“ werden4.

 

Vor diesem Hintergrund wünscht das EbM-Netzwerk diagnostische Studien, mit denen sich die Genauigkeit für verschiedene Testszenarien verlässlich abschätzen lässt - insbesondere für Tests, die nicht aufgrund von Symptomen oder Kontakten mit Infizierten durchgeführt werden (höhere Vortest-Wahrscheinlichkeit), sondern auf freiwilliger Basis angeboten werden (niedrigere Vortest-Wahrscheinlichkeit). Diese müssen insbesondere eine valide Verifikation positiver Testergebnisse umfassen – ein Element, was angesichts des Status der RT-PCR als Goldstandardverfahren in den in die beiden systematischen Reviews eingeschlossenen Studien zumeist unterblieben ist.

 

Eine andere Konnotation bekommt die Problematik der falsch-positiven Tests, wenn nicht „Infektion“, sondern „Infektiosität“ als diagnostisches Ziel betrachtet wird. Ein Ende August in der New York Times veröffentlichter Artikel5 mutmaßt, dass (in den USA) bis zu 90% der als positiv gewerteten Testergebnisse nicht als positiv gelten sollten, da die nachgewiesene Virusmenge zu gering für eine Infektiosität der getesteten Personen war. Mit dem PCR-Test wird virales Genmaterial nachgewiesen, welches zuvor in Amplifikationszyklen vermehrt werden muss. Je weniger Genmaterial vorhanden ist, desto mehr Amplifikationszyklen werden für den Nachweis gebraucht (cycle threshold, ct-Wert). Nach Ansicht der amerikanischen Virologin sind ct-Werte über 35 zu sensitiv, d.h. sie werden bei Personen gefunden, die nicht (mehr) infektiös sind.

 

Das Problem scheint auch für Deutschland relevant zu sein, wie Recherchen von Markus Grill und Kristiana Ludwig6 ergaben. Auch hier werden Testergebnisse mit hohen ct-Werten (z. B. 40) als positiv herausgegeben und zusätzlich werden die zu den Ergebnissen gehörigen ct-Werte nicht flächendeckend von den Laboren an die Gesundheitsämter kommuniziert – mit der Folge, dass Anordnungen zur Selbstisolation an Personen ergehen, von denen keine Ansteckungsgefahr ausgeht.

 

Unseres Erachtens ist die systematische Aufarbeitung vorhandener Evidenz und sehr wahrscheinlich weitere Forschung nötig, um die Frage zu klären, ab welcher Viruslast tatsächlich von Infektiosität auszugehen ist und wie sich die in den Laboren ermittelten Werte für die cycle threshold (ct-Wert) standardisieren lassen. Bei den Maßnahmen der Gesundheitsämter auf der Basis der Labordaten sollten diese Werte dann routinemäßig berücksichtigt werden, um die Ansteckungsgefahr realistisch abzuschätzen und unnötige Quarantänen oder Isolation zu vermeiden.

 

Referenzen:

  1. Böger B, Fachi MM, Vilhena RO, Cobre AF, Tonin FS, Pontarolo R. Systematic review with meta-analysis of the accuracy of diagnostic tests for COVID-19. American Journal of Infection Control. 10. Juli 2020;. doi:10.1016/j.ajic.2020.07.011
  2. Jarrom D, Elston L, Washington J, Prettyjohns M, Cann K, Myles S, u. a. Effectiveness of tests to detect the presence of SARS-CoV-2 virus, and antibodies to SARS-CoV-2, to inform COVID-19 diagnosis: a rapid systematic review. BMJ EBM. 1. Oktober 2020;bmjebm-2020-111511
  3. Beetz C, Skrahina V, Förster TM, Gaber H, Paul JJ, Curado F, u. a. Rapid Large-Scale COVID-19 Testing during Shortages. Diagnostics. 8. Juli 2020;10(7):464.
  4. Robert Koch-Institut (RKI): Hinweise zur Testung von Patienten auf Infektion mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html
  5. https://www.nytimes.com/2020/08/29/health/coronavirus-testing.html
  6. https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-test-ct-wert-umfrage-gesundheitsaemter-1.5057646

 

Dr. med. Dagmar Lühmann

Stellvertretende Vorsitzende des EbM-Netzwerks

Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen

Vorsitzender des EbM-Netzwerks


Erwiderung zum Kritikpunkt "Falsch-positive Testergebnisse" als PDF

 

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