Austausch zwischen Politik und Wissenschaft: Der EbM-Kongress 2024 eröffnete neue Perspektiven
Dass die EbM immer wieder instrumentalisiert wird, ist ein bekanntes Phänomen in der Medizin. Die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack (Universität Wien) erläuterte in ihrer Keynote Lecture vergleichbare Mechanismen in der Politik. So warnte sie davor, dass das Fehlen von Evidenz strategisch genutzt wird, um eigene Verantwortung abzustreiten. Oft würden politische Fragen auf die wissenschaftliche Ebene gezogen, um Entscheidungen zu blockieren. Die EbM müsse ohne eine vorab festgelegte Evidenzhierarchie in politischen Gremien mitwirken, um Gehör zu finden. Wichtiger als methodische Finesse seien im politischen Kontext Bias-Vermeidung und Prozesslegitimität, also z. B. der Ausgleich von Interessenkonflikten, Transparenz von Begründungen oder der Einbezug demokratisch gewählter Gremien. Auch Karl Lauterbach (Bundesminister für Gesundheit) bekräftigte in seiner Video-Botschaft, wie wichtig evidenzbasierte Entscheidungen seien – insbesondere in der Vermittlung und Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern.
Die zweite Keynote Lecture wurde gehalten von Annette Boaz (King's College London). Sie beschäftigte sich allgemeiner mit Fragen der Evidenz-Implementierung und bezog auch soziologische Aspekte mit ein. Hilfreich insbesondere in Krisenzeiten sei ein „Evidence-Support System“, um lokales und globales Wissen zu verbinden und alle beteiligten Akteure systematisch einzubeziehen. Eine Zusammenarbeit sei aber nur dann wirklich erfolgreich, wenn gemeinsame Ziele festgelegt werden und durch authentisches und empathisches Agieren eine Vertrauensbeziehung zwischen den Akteuren aufgebaut werde.
In der Plenardiskussion wurde der Austausch zwischen Wissenschaft und Politik real ausprobiert und vertieft. Die Patientenvertreterin Margot Ham-Rubisch (Beisitzerin im Vorstand des EbM-Netzwerks) wies darauf hin, dass politische Maßnahmen aus Sicht der Bevölkerung kohärent und nachvollziehbar sein müssen. Die Zeit für „einsame Entscheidungen“ sei vorbei. Laut Journalistin Heike Haarhoff (Der Tagesspiegel) müsse hierfür EbM insgesamt schneller und besser kommuniziert werden – vor allem digital und durch Teams, nicht Einzelpersonen („Kakophonie der Experten“). Paula Piechotta (MdB Bündnis 90/Die Grünen) erklärte, dass die Politik sich bevorzugt über Verbände, Fachgesellschaften oder unabhängige Institute informieren lasse, weil man so hoffe, kompakte und möglichst neutrale Information zu erhalten. Auch sie warnte vor dem Risiko des Missbrauchs der EbM durch die selektive Bezugnahme politischer Akteure auf einzelne, von einzelnen Expertinnen und Experten angeführten Studien. Umso wichtiger sei es, dass in der Politik mindestens ein Grundverständnis von Wissenschaft bestehe. Im Gesundheitswesen stünden große Aufgaben an (z. B. Krankenhausreform), aber Evidenz gebe es nur teilweise. Martin Bujard (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung) unterstützte diese Kritik am deutschen Gesundheitswesen: Die Lebenserwartung deutscher Männer und Frauen sei im europäischen Vergleich fast auf dem letzten Platz, wofür aber auch soziale Ursachen verantwortlich sind. Von der Diskussionsrunde mehrfach positiv hervorgehoben wurde jedoch das deutsche System der Selbstverwaltung mit seinen unabhängigen wissenschaftlichen Instituten. Hier werde auch langfristiger gedacht als es 4-jährige Wahlperioden in der Politik vorgeben. Kritisch merkte Dawid Pieper (Medizinische Hochschule Brandenburg) an, dass selbstverständlich auch die Wissenschaft nie völlig neutral sei, sondern stets auch Werturteile einbeziehe – bewusst oder unbewusst. Wichtig sei das transparente Unterscheiden beider Domänen.
Im abschließenden Plenarvortrag gab John Lavis (McMaster University) einen strukturierten Überblick über zeitgerechte und bedarfsorientierte Evidenz-Unterstützung für System-Entscheidungen. Er betonte, dass die COVID19-Erfahrungen gezeigt hätten, wie wichtig im Einzelfall sehr rasche Evidenzbereitstellung sei („Ultra-rapid reviews“) und wie hilfreich bereits bestehende Komitees zur kontinuierlichen Aktualisierung rasch wachsender Evidenzkörper seien. Auch seien die erheblichen methodischen und organisatorischen Unterschiede zwischen klinischer EbM und evidenzbasierter Public Health klar zu Tage getreten. Generell ausgedient habe das GOBSATT-Modell („Good old boys sitting around the table“). Nicht zuletzt brauche es parallel stets auch machbare Prozesse zur Evidenzgenerierung. Insgesamt müsse die Wissenschaft sehr flexibel auf die enorme Heterogenität politischer Entscheidungsfragen eingehen.
Neben diesen Plenarvorträgen und der Plenardiskussion umfasste das Kongressprogramm 8 Symposien, 10 Workshops, über 50 Vorträge und über 80 Postervorträge u.a. zu den Schwerpunktthemen Wissenstransfer in Versorgung und Politik, Methoden der Evidenzgenerierung und -synthese sowie Aus-, Fort- und Weiterbildung. Vielfache Beiträge bezogen sich beispielsweise auf aktuelle Themen wie die bedarfsgerechte Weiterentwicklung von Aufgabenprofilen der Gesundheitsberufe sowie methodische Entwicklungen und Herausforderungen in der Nutzung digitaler Technologien für die Evidenzgenerierung und -synthese und die Evaluation digitaler Gesundheitstechnologien. Insgesamt zeigten die Kongressbeiträge auf, dass sowohl in methodischer Hinsicht als auch hinsichtlich der Dissemination und Nutzung der evidenzbasierten Medizin eine Vielzahl aktueller Herausforderungen und Weiterentwicklungsaufgaben für die evidenzbasierte Medizin bestehen.
Diese Zukunftsaufgaben aufzunehmen und vertieft zu diskutieren, ist das erklärte Ziel des nächsten EbM-Kongresses, der vom 26. bis 28. März 2025 in Freiburg stattfinden wird.
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