Fünf Forderungen für eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik
1. Daseinsfürsorge statt Kommerzialisierung
Es braucht eine tiefgreifende Reform des deutschen Gesundheitswesens: Weg von einem erlösgesteuerten System, in dem das Patientenwohl durch unnötige Leistungen gefährdet wird, hin zu einem evidenzbasierten, patientenzentrierten Gesundheitswesen. Dies fordern wir gemeinsam mit dem Sachverständigenrat Gesundheit und vielen weiteren Akteuren nachdrücklich seit Jahren.[1],[2],[3],[4] Benötigt wird eine Ausrichtung an patientenorientierten evidenzbasierten Qualitätsparametern anstelle von kommerziellen Fehlanreizen. Das Gewinnstreben im Gesundheitswesen führt nicht nur zu Über- und Fehlversorgung – sondern birgt auch das Risiko von Unterversorgung. Denn: Wenn sich alle auf die lukrativen Bereiche in der Gesundheitsversorgung fokussieren (müssen), werden zum Teil diejenigen unterversorgt, die eine Behandlung am meisten benötigen.
Wir brauchen dringend bessere und nachhaltige Rahmenbedingungen für eine exzellente person-zentrierte evidenzbasierte Pflege. Dies erfordert eine Reform der Finanzierung von Pflegeleistungen, hin zu einem an Bedarf und Qualität ausgerichteten Finanzierungssystem. Das erlösgesteuerte Management der deutschen Gesundheitsversorgung in Krankenhäusern, Krankenhausplanung, Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen muss unterbunden werden. Notwendig ist ein an Bedarf und Qualität ausgerichtetes Finanzierungssystem. Das EbM-Netzwerk appelliert an die Verantwortlichen in der Regierung, das Geschäftsmodell der deutschen Gesundheitsversorgung mit den hohen und stetig steigenden Kosten und dem im europäischen Vergleich mäßigen Ergebnissen[5] zu beenden und eine an der Daseinsfürsorge und dem Patientenwohl für alle Bürger*innen orientierte gemeinnützige Medizin zu fördern.
2. Gesundheitsforschung fokussieren und Forschungskultur reformieren für ein ständig besser und evidenzbasierter werdendes Gesundheitssystem
Deutschland ist schwach darin, große und wichtige Fragen in der Gesundheitsversorgung durch gute Studien rasch zu beantworten.[6] Trotz vieler Initiativen hat auch die Forschung zu Corona-Themen erhebliche Lücken offenbart.[7] Es reicht nicht, sich auf den deutschen Stärken in Biotechnologie und Medizintechnik auszuruhen.
Viele Fragen zu gesundheitsbezogenen Entscheidungen lassen sich am besten durch einfaches, direktes Vergleichen der Alternativen beantworten. Wenn dabei der Zufall entscheidet, ob Alternative A oder B durchgeführt wird, können Studien pragmatisch und mit minimalem Aufwand durchgeführt werden und gleichzeitig maximal verlässliche Antworten liefern. Derzeit aber werden bevorzugt solche Studien mit öffentlichem Geld gefördert, die aufwendig und komplex sind, daher aber oft scheitern. Auch in der Bevölkerung gibt es oft noch den Irrglauben, dass das Mitmachen bei einer Studie belastend und riskant sei.[8]
Gebraucht wird ein Zentrum zur Neuorganisation und Finanzierung klinischer Forschung, so wie es in den USA und Norwegen schon existiert.[9] Hierbei muss der Patientenbedarf anstatt das Forscherinteresse im Fokus stehen. Gleichzeitig muss der regulatorisch-bürokratische Aufwand klinischer Forschung durch geeignete Gesetzgebung reduziert werden.[10] Am wichtigsten aber wird eine neue Forschungskultur bei Patient*innen, Forschenden, medizinischem Personal und Forschungsförderern sein. Forschungsaktivitäten und das Mitwirken daran müssen zur normalen Routine werden auf dem Weg hin zu einem ständig besser und evidenzbasierter werdenden Gesundheitssystem. Dies verbessert die Behandlung der Patient*innen – auch in einer epidemischen Lage – und stärkt substanziell die Position der deutschen Gesundheitsindustrie. Denn unabhängige, versorgungsnahe Forschung ist keine akademische Spielerei, sondern unverzichtbare Grundlage für jegliche Entscheidung im Gesundheitswesen.
3. Prävention evidenzbasiert weiterentwickeln und konsequent ausbauen
Wir fordern die künftige Bundesregierung dazu auf, wissenschaftliche Evidenz aus der Public-Health-Forschung sowie der Epidemiologie konsequent in Gesetzgebungsvorhaben umzusetzen. Die Prävention vermeidbarer lebensstilassoziierter Erkrankungen muss im Zentrum einer zukunftsorientierten Gesundheitspolitik stehen und dabei insbesondere soziale Faktoren, Ernährung, Klimawandel und kommunale Infrastruktur berücksichtigen. Das Präventionsgesetz von 2015 muss sinnvoll weiterentwickelt und konsequent evaluiert werden. Mit einer überschaubaren Anzahl an Maßnahmen ließe sich die Krankheitslast in der Bevölkerung deutlich und kosteneffektiv reduzieren.[11] Hierzu gehört bspw. die Umsetzung der Strategie für ein tabakfreies Deutschland,[12] die auf dem WHO Framework for Tobacco Control basiert, das bereits 2004 von Deutschland ratifiziert wurde, oder die Reduktion schädlichen Alkoholkonsums.[13] Insbesondere die Sustainable Development Goals und der Non-Communicable Disease Action Plan der UN sollten in diesem Zusammenhang stärker beachtet werden.[14]
4. Kritische Gesundheitskompetenz und informierte Entscheidungen stärken
Mit dem Nationalen Gesundheitsportal besteht die Chance, die kritische Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu erhöhen und die Voraussetzungen für informierte Entscheidungen zu etablieren. Ein Survey des EbM-Netzwerks[15] hat einen Optimierungsbedarf hinsichtlich der Evidenzbasierung, Transparenz und Unabhängigkeit aufgezeigt. Das Nationale Gesundheitsportal sollte weiterentwickelt werden, um seine Ziele zu erreichen. Die Inhalte sollten internationale Standards einhalten, wie sie etwa in der Guten Praxis Gesundheitsinformation[16] bzw. der Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation[17] beschrieben sind. Die Basis für Gesundheitskompetenz muss bereits viel früher gelegt werden – durch entsprechende Lehrinhalte an allen allgemeinbildenden Schulen.
Darüber hinaus sind Strukturen zu etablieren, um evidenzbasierte Entscheidungshilfen aus Leitlinien zu entwickeln. Aktuelle Leitlinien sehen häufig schon Informed Shared Decision Making vor, aber sie stellen keine Grundlage für die Entwicklung von Entscheidungshilfen dar, die Patient*innen für informierte Entscheidungen benötigen.
5. Aus-/Fort-/Weiterbildung auf zentrale Werte ausrichten
Ein erfolgreiches Gesundheitswesen braucht kompetente Menschen in den Gesundheitsprofessionen, die neben angemessener Bezahlung ihre Bestätigung auch aus einer sinnstiftenden, möglichst guten Patientenversorgung erhalten. Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen sich daher an zentralen Werten wie Empathie und wissenschaftlicher Begründbarkeit orientieren. Wesentlich ist vor allem, sich an der vorhandenen Evidenz zu orientieren und das Patientenwohl in den Mittelpunkt zu stellen.
Meist überschätzt werden dagegen die technischen Neuerungen – zuletzt vor allem im Bereich digitaler Technologien und Daten. In der Aus-, Fort-, und Weiterbildung sollten Kompetenzen einer evidenzbasierten Medizin systematisch in die Curricula integriert werden, um bei den Gesundheitsberufen eine kritische Kompetenz zu befördern, damit Technik nicht als Selbstzweck begrüßt wird, sondern evaluiert und sinnvoll eingesetzt wird. Für die Umsetzung einer evidenzbasierten Praxis in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung muss die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe konzertiert ausgebaut werden. Auch braucht es rechtliche Rahmenbedingungen für eine eigenständige, qualifikationsadäquate Berufsausübung dieser akademisch qualifizierten Fachpersonen in der direkten Patientenversorgung.[18]
Für den geschäftsführenden Vorstand
Prof. Dr. med. Dipl.-Soz. Tanja Krones
Erste Vorsitzende
REFERENZEN
[1] Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (27.02.2019): Evidenzbasierte Medizin und Daseinsfürsorge statt erlösgesteuerter Gefährdung des Patientenwohls! https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-20190227-gewinnmax_medizin.pdf
[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2018): Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Gutachten 2018. https://www.svr-gesundheit.de/index.php?id=606
[3] Robert -Bosch-Stiftung (2018): Neustart! Für das Gesundheitsrecht im Rahmen der Initiative Neustart! Gesundheitswesen. https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2021-06/Neustart_f%C3%BCr_das_Gesundheitsrecht.pdf
[4] Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (2018): Medizin und Ökonomie - Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung. https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Medizinische_Versorgung/20181205_Medizin_und_%C3%96konomie_AWMF_Strategiepapier_V1.0mitLit.pdf
[5] Deutsches Ärzteblatt (29.10.2018): EU-Kommissar moniert „Überversorgung“ im deutschen Gesundheitswesen. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/98804/EU-Kommissar-moniert-Ueberversorgung-im-deutschen-Gesundheitswesen
[6] Wissenschaftsrat (2018): Empfehlungen zu Klinischen Studien. https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/7301-18.html
[7] Hirt J et al.: Clinical trial research on COVID-19 in Germany – a systematic analysis [version 1; peer review: awaiting peer review]. F1000Research 2021, 10:913 https://doi.org/10.12688/f1000research.55541.1
[8] Kessel KA et al. Cancer clinical trials - Survey evaluating patient participation and acceptance in a university-based Comprehensive Cancer Center (CCC). Clin Transl Radiat Oncol 2018; 13: 44-49. https://doi.org/10.1016/j.ctro.2018.10.001
[9] Siehe z. B. das Patient-Centered Outcomes Research Institute (PCORI) in den USA, das bei einem Beitrag von 2 US-$ pro Versichertem über ein Jahresbudget von ca. 500 Mio. US-$ verfügt (https://www.pcori.org/). Auf Deutschland umgerechnet, müssten jährlich ca. 150 Mio. € in klinische Forschung investiert werden.
[10] Wieseler B et al. (2021): Randomisierte versorgungsnahe Studien: Gesetzliche Hürden abbauen. Dtsch Ärztebl 2021; 118: A-1694 https://www.aerzteblatt.de/archiv/221291/Randomisierte-versorgungsnahe-Studien-Gesetzliche-Huerden-abbauen
[11] World Health Organization (2017): Tackling NCDs: 'best buys' and other recommended interventions for the prevention and control of noncommunicable diseases. https://apps.who.int/iris/handle/10665/259232.
[12] Deutsches Krebsforschungszentrum, Deutsche Krebshilfe und Aktionsbündnis Nichtrauchen (2021): Strategie für ein tabakfreies Deutschland 2040. https://www.dkhw.de/fileadmin/Redaktion/4_Ueber_uns/4.3_Positionen/Tabakfreies_Deutschland/2021_Strategie-fuer-ein-tabakfreies-Deutschland-2040.pdf
[13] Rehm J, et al.: Reducing the harmful use of alcohol: have international targets been met? Eur J Risk Regul 2020; 12: 530-540 https://doi.org/10.1017/err.2020.84
[14] United Nations (2021): Sustainable Development – The 17 Goals. https://sdgs.un.org/goals
[15] Lühnen J, Steckelberg A (2021). Survey zum Nationalen Gesundheitsportal. https://arbeitskreis-frauengesundheit.de/2020/09/01/satellitensymposium-osteoporose-mythen-und-fakten-gute-gesundheitsinformationen-als-voraussetzung-fuer-informierte-entscheidungen/
[16] Arbeitsgruppe G.P.G.I. Gute Praxis Gesundheitsinformation [Good practice guidelines for health information]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2016; 110-111: 85-92. https://doi.org/10.1016/j.zefq.2015.11.005
[17] Lühnen J, et al. (2017) Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation. http://www.leitlinie-gesundheitsinformation.de
[18] Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (30.07.2021): Stellungnahme zum Referentenentwurf über die Berufe in der Physiotherapie. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-ebm-netzwerk-konsultation_physiotherapie_2021.pdf