Evidenzbasierte Medizin auf dem Abstellgleis? Gesundheitspolitik steuert auf gefährlichem Kurs
In den letzten Jahren sei die evidenzbasierte Medizin (EbM) in der deutschen Gesundheitspolitik zunehmend in den Hintergrund gedrängt und scheinbar unpopulärer geworden, so Windeler in seinem aktuellen ZEFQ-Editorial unter der Überschrift „EbM und Gesundheitspolitik heute – und morgen?“. Trotz häufiger Bekenntnisse zu ihrer Bedeutung, insbesondere durch hochrangige Regierungsvertreter, würden die eigentliche Methodik und die Relevanz von EbM immer stärker vernachlässigt. Der Entwurf des „Gesundes-Herz-Gesetzes“ vom Juni dieses Jahres habe einen besorgniserregenden Tiefpunkt markiert.
Der Gesetzentwurf ignoriere nicht nur bewährte evidenzbasierte Maßnahmen für die Herzgesundheit, sondern beinhalte sogar gesetzliche Regelungen für Interventionen, deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt ist. Damit würden zentrale Prinzipien der Gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V), wie die Orientierung an anerkannten medizinischen Erkenntnissen und das Wirtschaftlichkeitsgebot, außer Kraft gesetzt.
Diese Entwicklung sei kein neues Phänomen, sondern ein Prozess, der sich über die letzten 15 Jahre schleichend vollzogen hat, konstatiert Windeler. Beispielhaft verweist er in dem Editorial unter anderem auf den sogenannten „Verbotsvorbehalt“ nach § 137c SGB V, aber auch auf jüngere Entwicklungen wie das Gesundheitsdatennutzungsgesetz. All diese gesetzlichen Änderungen seien mit dem Versprechen auf den Weg gebracht worden, die Generierung wissenschaftlicher Evidenz zu fördern und wissenschaftliche Erkenntnisse zügiger für die Versorgung nutzbar zu machen, ohne dass zunächst aussagekräftige Evaluationen – in der Regel mittels randomisiert-kontrollierter Studien – nach den Maßstäben der EbM erfolgten. Bisher fehlten aber bis auf wenige Ausnahme Beweise dafür, dass diese und ähnliche Initiativen die Qualität der Versorgung verbessert hätten.
Für Windeler sind diese Entwicklungen ein Beleg dafür, dass es bisher nicht gelungen ist, die Grundgedanken der EbM breit in Politik und Gesellschaft zu verankern, insbesondere auch nicht bei den Patientinnen und Patienten – also denjenigen, die von den Folgen unmittelbar betroffen sind –, aber auch nicht in der ärztlichen Berufsgruppe. In dieser Hinsicht stellt er auch den Vertreterinnen und Vertretern der EbM selbst ein kritisches Zeugnis aus und hinterfragt die Art und Weise, wie die Ziele und Methoden der EbM in Richtung der verschiedenen Zielgruppen vermittelt werden. Er fordert, dass die EbM-Akteure ihre Position stärker und anders artikulieren müssen. Er hält es für wichtig, dass sie sich aktiv in den politischen Diskurs einmischen und Verbündete suchen – insbesondere unter den Patientenorganisationen. Nur so könne gewährleistet werden, dass evidenzbasierte Entscheidungen wieder den Stellenwert erhalten, den sie für eine effiziente und patientenorientierte Gesundheitsversorgung haben müssen.
Windeler formuliert folgende Handlungsempfehlungen für die EbM-Protagonisten:
- aufhören, die Besseren (Menschen) sein zu wollen
- Verbündete suchen, in interessierten Fachgesellschaften und Verbänden, ganz besonders unter den Patientinnen und Patienten
- in Themen und Sprache auf diejenigen einstellen, die man erreichen will
- einmischen, mit guten, fremden oder eigenen Beispielen, nicht nur mit Forderungen an die Politik
- aufzeigen, was wir nicht wissen (und warum nicht) und wie man das ändern kann ...
- … mit konkreten, machbaren Vorschlägen.
Auch wenn er in der Langstrecke auf die Beweiskraft der EbM-Prinzipien vertraut, sieht Windeler angesichts der aktuellen Entwicklungen die Gefahr, dass diese Prinzipien derzeit und auch in näherer Zukunft von anderen Interessen übertönt werden – und dies letztlich zulasten der Patientinnen und Patienten. „EbM soll (weiterhin) stören“, lautet ein zentraler Anspruch des Editorials.
Quelle:
Windeler J. EbM und Gesundheitspolitik heute – und morgen? Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ), 31.08.2024, https://doi.org/10.1016/j.zefq.2024.08.003
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