Stellungnahme zum Statement des Patientenbeauftragten zu den Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL)

28.05.2024. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Stefan Schwartze, MdB plädiert in einem Statement zu den individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) dafür, dass bestimmte IGeL nicht an Patient:innen verkauft werden sollten. Das EbM-Netzwerk begrüßt die Initiative des Patientenbeauftragten ausdrücklich und fordert die Bundesregierung auf, dem Verkauf von IGeL Einhalt zu gebieten, wenn der mögliche Schaden den Nutzen überwiegt.

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Stefan Schwartze plädiert in einem Statement zu den individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) dafür, dass bestimmte IGeL nicht an Patient:innen verkauft werden sollten. Er bezieht sich dabei auf solche IGeL, bei denen die Risiken die Vorteile dieser Zusatzbehandlung überwiegen. Insbesondere kritisiert er, dass Patient:innen diese Leistungen in Anspruch nehmen, ohne sich der möglichen negativen Auswirkungen bewusst zu sein. Er sieht einen dringenden Informations- und Reformbedarf und möchte mit seinem Statement dazu beitragen, dieses Thema in den öffentlichen Diskurs zurückzuholen [1].

Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin begrüßt die Initiative des Patientenbeauftragten ausdrücklich und fordert die Bundesregierung auf, dem Verkauf von IGeL Einhalt zu gebieten, wenn der mögliche Schaden den Nutzen überwiegt.

Dies betrifft einen nicht geringen Teil der derzeit angebotenen IGeL. IGeL sind Leistungen, die nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) enthalten sind, weil sie entweder per Gesetz nicht zu den Aufgaben der GKV gehören (z. B. Atteste und Reiseimpfungen) oder weil für sie nicht gezeigt werden konnte, dass sie „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“, oder weil sie noch nicht geprüft wurden [2].

Der IGeL-Monitor bewertet regelmäßig die angebotenen IGeL. Hierzu werden wissenschaftliche Arbeiten zu Nutzen und Schaden der medizinischen Leistung herangezogen und analysiert. Nach einem Schema werden Nutzen und Schaden dann gegeneinander abgewogen, um die Leistungen in folgende fünf Bewertungsstufen einzuordnen [2,3]:

  • —Positiv: Belege für Nutzen und keine Hinweise auf Schaden
  • —Tendenziell positiv: Hinweise auf Nutzen und keine Hinweise auf Schaden oder Belege für Nut¬zen und Hinweise auf Schaden
  • —Unklar: keine Hinweise auf Nutzen und Schaden oder Hinweise auf Nutzen und Schaden oder Belege für Nutzen und Schaden
  • —Tendenziell negativ: Hinweise auf Schaden und keine Hinweise auf Nutzen oder Belege für Schaden und Hinweise auf Nutzen
  • —Negativ: Belege für Schaden und keine Hinweise auf Nutzen.

Anhand dieses Vorgehens bewertet der IGeL-Monitor einen hohen Anteil der aktuell aufgeführten IGeL in ihrer Nutzen-Schaden-Bilanz als negativ (n=4) oder tendenziell negativ (n=24). 23 IGeL erhielten die Bewertung „unklar” und nur zwei wurden als tendenziell positiv bewertet. Keine IGeL erhielt eine positive Bewertung [4]. Hierbei hat eine Arbeit gezeigt, dass die Bewertungen durch den IGeL-Monitor eine hohe Übereinstimmung mit den Empfehlungen aktueller Leitlinien haben: 79 % der geprüften Bewertungen stimmen (nahezu) überein. Es zeigt sich also, dass (tendenziell) negativ bewertete IGeL in den Leitlinien ebenfalls nicht empfohlen werden [3].

Dies unterstützt die Forderung, dass (tendenziell) negativ bewertete IGeL nicht verkauft werden sollen, da es sich um Maßnahmen handelt, die in medizinischen Leitlinien nicht empfohlen werden. Die negative oder unklare Nutzen-Schaden-Bilanz ist bei diesen Leistungen ja auch der Grund, warum sie nicht in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen wurden. Das Angebot allein widerspricht damit schon einer evidenzbasierten Versorgungspraxis, weil Maßnahmen entgegen bzw. nicht entsprechend der vorliegenden Evidenz ergriffen werden.

Des Weiteren setzt die Realisierung einer evidenzbasierten Versorgung voraus, dass die bestverfügbare Evidenz unter Berücksichtigung der Standards für evidenzbasierte Gesundheitsinformationen [5,6,7] der Bevölkerung bereitgestellt wird und so informierte Entscheidungen ermöglicht werden.

Aktuell sieht die Situation in der Praxis allerdings anders aus. Eine Umfrage des IGeL-Monitor hat gezeigt, dass 22 % der Patient:innen nicht über den Nutzen und 44 % nicht über den möglichen Schaden aufgeklärt waren [8]. Die Auskunft beruht auf der subjektiven Einschätzung der Befragten. Ein Viertel der Versicherten gab in der Befragung an, unzufrieden mit der Situation in der Praxis zu sein. Die Unzufriedenheit stieg stark an, wenn die Personen mit ihrer Entscheidung für oder gegen eine IGeL zeitlich unter Druck gesetzt wurden, die Informationen für sie nicht verständlich waren oder sie nicht über den Nutzen der Leistung aufgeklärt wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass etwa 19 % der Befragten bei der Entscheidung für oder gegen eine IGeL zeitlich unter Druck gesetzt wurden und dass bei 12 % der Befragten die Behandlung mit einer Kassenleistung vom Kauf einer IGeL abhängig gemacht worden ist.

Laut IGeL-Report 2020 werden 80 % der IGeL von Ärzt:innen angeboten, nur 19 % werden von Versicherten selbst nachgefragt [8]. Etwa jede zweite der angebotenen IGeL wird von den Versicherten auch in Anspruch genommen [8].

Ein Verbot von IGeL-Leistungen sieht die Bundesärztekammer laut Tagesspiegel Background „als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Patienten“; aus Sicht eines ärztlichen Berufsverbands sei es ein „Rückschritt für die Selbstbestimmung“ [9]. Die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat hingegen das ärztliche Gebot der Schadensvermeidung definiert [10].

Die aktuelle Versorgungspraxis fördert Selbstbestimmung allenfalls in Ansätzen. Für Interventionen, die Partizipation fördern wollen, sogenannte „decision support tools“, hat die Aktualisierung eines Cochrane Reviews gezeigt, dass der Einsatz dieser Tools zu mehr informierten Entscheidungen, besserem Wissen und genauerer Risikowahrnehmung und einer aktiveren Rolle bei der Entscheidungsfindung führen [11].

Statt Versicherte mit dem Verkauf von IGeL zu behelligen, sollten informierte Entscheidungen zu Maßnahmen im Leistungskatalog gefördert werden. Wenn objektiv der Nutzen nicht den möglichen Schaden überwiegt, braucht es den Schutz der Bevölkerung. Zudem werden durch den Stopp solcher IGeL mögliche Folgekosten für die Versichertengemeinschaft vermieden, die durch weitere Abklärungsuntersuchungen oder Übertherapien entstehen.

 

Referenzen

  1. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten. 2024. https://patientenbeauftragter.de/2024/04/15/statement-des-patientenbeauftragten-stefan-schwartze-mdb-zu-den-individuellen-gesundheitsleistungen-igel/ (Zugriff 07.05.2024).
  2. Kurz & bündig. https://www.igel-monitor.de/ueber-igel/kurz-und-buendig.html (Zugriff 15.05.2024).
  3. Becker M, Hansen U, Eikermann M. Stehen die Bewertungen von Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) des IGeL-Monitors im Einklang mit Leitlinien? Gesundheitswesen. 2023;85(12):1192-1199.
  4. IGel Mnitor: Alle bewerteten Igel. IGeL Monitor - IGeL A - Z (igel-monitor.de). (Zugriff 15.05.2024).
  5. Lühnen J, Albrecht M, Mühlhauser I, Steckelberg A. Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation. [Guideline evidence-based health information]. Hamburg. 2017. (www.leitlinie-gesundheitsinformation.de) (Zugriff 15.05.2024).
  6. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM) Arbeitsgruppe Gute Praxis Gesundheitsinformation. Gute Praxis Gesundheitsinformation. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 2016;110-111:85-92.
  7. The International Patient Decision Aid Standards (IPDAS). The IPDAS Checklist. International Patient Decision Aids Standards (IPDAS) Collaboration (ohri.ca); (Zugriff 15.05.2024).
  8. Drews M, Reiners N 2020: IGeL-Report: Ergebnisse der Versichertenbefragung. 2020_08_25_Ausfuehrlich_IGeL_Report_2020.pdf (igel-monitor.de). (Zugriff 15.05.2024).
  9. Woratschka R. IGeL Verbot? “Weder erforderlich noch verhältnismäßig” Tagesspiegel Background. 19.04.24.
  10. Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer „Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung. Das Beispiel der Verträge mit leitenden Klinikärztinnen und -ärzten“ Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 38 | 20. September 2013
  11. Stacey D, Lewis KB, Smith M, Carley M, Volk R, Douglas EE, Pacheco-Brousseau L, Finderup J, Gunderson J, Barry MJ, Bennett CL, Bravo P, Steffensen K, Gogovor A, Graham ID, Kelly SE, Légaré F, Sondergaard H, Thomson R, Trenaman L, Trevena L. Decision aids for people facing health treatment or screening decisions. Cochrane Database of Systematic Reviews 2024, Issue 1. Art. No.: CD001431. DOI: 10.1002/14651858.CD001431.pub6. (Zugriff 15.05.2024).

 

Zur Stellungnahme als PDF

Weiterführende Informationen: IGeL-Podcast "Gehören manche IGeL verboten?" vom 13.05.2024 (Angebot des MD Bund)

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